Künstliche Intelligenz gilt als eine der Schlüsseltechnologien und Treiber der Digitalisierung und Entstehung neuer, disruptiver Geschäftsmodelle. In vielen Ländern dieser Welt ist ihr Einsatz schon Realität oder sogar Alltag – jedoch herrschen noch Unterschiede im Grad der Nutzung und den Einsatzmöglichkeiten in den verschiedenen Ländern weltweit. In diesem Artikel nähern wir uns der Frage, wie Künstliche Intelligenz weltweit genutzt wird durch Interviews mit Experten. Den Auftakt macht dabei Deutschland, gefolgt von den USA und China.
Inhaltsverzeichnis
Künstliche Intelligenz in China: Ein Interview mit Kristin Shi-Kupfer
Kristin Shi-Kupfer leitet den Forschungsbereich Politik, Gesellschaft und Medien. Sie ist Expertin für Chinas Digitalpolitik, Ideologie und Medienpolitik, Zivilgesellschaft und Menschenrechte. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sinologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Shi-Kupfer hat an der Ruhr-Universität Bochum über das Thema “Emergence and Development of Spiritual-Religious Groups in China after 1978″ promoviert. Von 2007 bis 2011 berichtete sie u.a. für ZEIT Online, taz, epd, Südwest Presse und Profil aus Peking. Im Mai 2017 wurde Shi-Kupfer in die Expertengruppe der deutsch-chinesischen Plattform Innovation des Bundesministeriums für Bildung und Forschung berufen. Seit Mai 2018 schreibt sie als regelmäßige Kommentatorin für die Online-Ausgabe des „Manager Magazins“.
Alexander Thamm: In welchem Zusammenhang haben Sie sich mit der KI-Nutzung in China beschäftigt?
Kristin Shi-Kupfer: Für unsere in diesem März erschienene Studie „China’s digital rise. Challenges for Europe“ haben wir uns in einem Team von vier Mitarbeiterinnen sehr intensiv mit Chinas neuen Technologien beschäftigt. KI als Automatisierung von intelligentem Verhalten und maschinellem Lernen spielt dabei eine übergreifende Schlüsselrolle in vielen Bereichen.
Alexander Thamm: Wie würden Sie den aktuellen Entwicklungsstand/Reifegrad der Künstlichen Intelligenz in China beurteilen?
Kristin Shi-Kupfer: Riesen Ambitionen, schnelle Fortschritte, grundsätzliche Schwächen – vereinfacht gesagt. Wie kein anderes Land treibt die chinesische Regierung durch enorme Investitionen, Pilotprojekte und die gezielte Einbindung des Privatsektors die Entwicklung von KI voran. Bis 2030 will Beijing in diesem Bereich global führend sein. In nahezu allen quantitativen Rankings, z.B. Anzahl der Patente oder KI-Firmen, liegt China jetzt schon vorne. Im Bereich Chips oder auch Grundlagenforschung für Datenverarbeitung und maschinelles Lernen hinkt die Volksrepublik mit eigenen Lösungen und Innovationen jedoch hinterher.
Alexander Thamm: In welchen Anwendungsbereichen wird KI dort am intensivsten eingesetzt?
Kristin Shi-Kupfer: Ein großer Teil des chinesischen Erfolgs beruht in der Tat darauf, dass KI – auch aufgrund der enormen Datenmengen und des großen Marktes – in vielen Anwendungsbereichen direkt eingesetzt, live getestet und somit weiterentwickelt wird. Das prominenteste Beispiel ist die Gesichtserkennung (facial recognition), die zum Beispiel beim mobilen Bezahlen, beim Einchecken ins Hotel, aber auch bei der öffentlichen Überwachung zum Einsatz kommt.
Alexander Thamm: Welche Daten werden hauptsächlich genutzt?
Kristin Shi-Kupfer: Mobilitäts- und Finanzdaten spielen eine wichtige Rolle, biometrische Daten, generell aber auch Texte, Bilder, Videos, Informationen, die Menschen durch ihr Verhalten generieren. All diese Informationen sind natürlich mit personenbezogenen Daten verknüpft.
Alexander Thamm: Und wie steht es um Datenschutz?
Kristin Shi-Kupfer: Eine wachsende Anzahl von Chinesen sorgt sich um Datenschutz. In einer Umfrage des chinesischen Konsumentenverbandes vom letzten Jahr gaben 85 Prozent der Befragten an, von Datenmissbrauch betroffen gewesen zu sein. Die chinesische Regierung hat in den letzten Jahren den Datenschutz durch nationale Standards and sektorspezifische Regulierungen auch gestärkt. Dennoch zielen all diese Regelungen lediglich auf Unternehmen, nicht aber parteistaatliche Institutionen. Es in China keine unabhängige Datenschutzbehörde und bislang auch kein nationales, umfassendes Gesetz zum Schutz von privaten Daten – das ist jetzt angekündigt worden. Bei den jüngsten Regularien ist erkennbar, dass Beijing einige Teile der europäischen Datengrundschutzverordnung übernommen hat. Allerdings weicht China an entscheidenden Stellen davon ab, zum Beispiel ist die einzuholende Zustimmungspflicht von Personen nicht so explizit formuliert. Das Grundproblem ist letztlich der politische Kontext: China ist kein Rechtsstaat. Chinesische Nutzer können keine Verfassungsklage gegen eine politische Institution wegen Datenmissbrauch anstrengen– und selbst wenn das formell möglich werden sollte, würden sie diese verlieren.
Alexander Thamm: Was ist das Interesse/Ziel hinter der Nutzung von Künstlicher Intelligenz in China?
Kristin Shi-Kupfer: Die chinesische Regierung will damit zum einen die Wirtschaft ankurbeln, quasi einen neuen Wachstumsmotor schaffen. Zum anderem will die Kommunistische Partei mit Hilfe von KI ihren umfassenden Machtanspruch durchsetzen, sprich alle anderen Akteure überwachen und kontrollieren – seien es die eigenen Kader, einheimische und ausländische Unternehmen, die eigenen Bürger und auch ausländische Führungskräfte. Nachhaltiges, anhaltendes Wachstum und effizientere Kontrolle sollen China dann ausrüsten für den geostrategischen Wettbewerb – vor allem mit den USA.
Alexander Thamm: Wo sehen Sie die größten Chancen (und Gefahren) von KI?
Kristin Shi-Kupfer: Wir sehen gerade in der nordwestlichen Region Chinas, in Xinjiang, was eine der größten, wenn nicht die größte Gefahr – abgesehen von kriegerischen Auseinandersetzungen – sein kann: die Schaffung eines totalitären, auf KI basierenden Überwachungsstaates. Die größte Chance von KI besteht aus meiner Sicht grundsätzlich immer dann, wenn es umsichtig zum Wohl der Menschen, zum Beispiel für Katastrophenfrühwarnsysteme, auch in der Gesundheitsversorgung.
Alexander Thamm: Welche Fortschritte/Wettbewerbsvorteile konnte China durch den Einsatz von KI realisieren?
Kristin Shi-Kupfer: Die Größe des Marktes und die enormen Mengen an Daten sind zwei große Wettbewerbsvorteile. Darüber hinaus experimentiert die chinesische Regierung damit, eine zentral gesteuerte Technologiepolitik inklusiver lokaler Pilotprojekte mit den oftmals fast „Wilder Westen“-mäßigen Dynamik des Marktes bzw. des Privatsektors zu verbinden. Das gestaltet sich schwierig. Oftmals gilt dabei, erst mal laufen lassen, dann regulieren. Die enormen Fortschritte in der Weiterentwicklung haben natürlich auch Folgen für Chinas militärische Kapazitäten, ein Bereich, der gerade bei einem nicht-demokratischen System wie die Volksrepublik nicht vergessen werden sollte.
Alexander Thamm: Wie sehen Sie die weitere Entwicklung der KI-Nutzung in China und wo steht Deutschland im Vergleich?
Kristin Shi-Kupfer: China wird sicherlich weiterhin schnelle Fortschritte bei der KI-Anwendung und Weiterentwicklung machen. Ob bzw. wann es China gelingt, bahnbrechende Innovationen in dem Bereich zu erzielen, ist nicht absehbar. Die ebenfalls massiven Bemühungen zur Talentförderung und -bindung sind ein wichtiger Faktor, der mit der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Gesamtentwicklung Chinas eng verknüpft ist. Dass diese nicht immer nur linear und aufwärts vorläuft, zeichnet sich jetzt schon ab.
Deutschland ist bei KI in einzelnen Teilbereichen, zum Beispiel Spracherkennung durchaus vorne mit dabei und auch bei den industriellen Anwendungen stark, der ganze Bereich Industrie 4.0, Internet der Dinge. Da sucht die Volksrepublik ja auch verstärkt die Kooperation.
Deutschland muss sich –im europäischen Kontext – sehr gut überlegen, wie es die Kooperation in dem Bereich KI mit China gestalten will – und kann. Unternehmen und Universitäten werden und sollten – auch mit staatlicher Unterstützung – von den enormen Daten und Fortschritten Chinas profitieren. Aber um zu vermeiden, oder zumindest das Risiko zu minimieren, dass deutsche oder europäische Akteure Technologien bereitstellen, die zum Beispiel in Xinjiang zum Einsatz kommen, braucht es klare Grundsätze und stärkere Richtlinien im Bereich Anwendung und Datenverarbeitung.
Alexander Thamm: Was empfehlen Sie für den Umgang mit KI (z.B. Unternehmen, der Politik, der Gesellschaft etc.) und was ist Ihre Prognose für die Zukunft?
Kristin Shi-Kupfer: Umsicht, das mit Blick nicht nur aus das Gesamtwohl der Menschheit, sondern auch auf die Würde eines jeden einzelnen. Der Einsatz und die Weiterentwicklung von KI muss aus meiner Sicht sehr eng mit ethischen, auch sicherlich immer mal wieder neu zu verhandelnden, Grundsätzen einhergehen. Dietrich Bonhoeffer hat etwas, auch für diesen Kontext, sehr Wichtiges gesagt: „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie [wir uns; ursprünglich „ich mich“] heroisch aus der Affäre ziehen, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll. Nur aus dieser geschichtlichen verantwortlichen Frage können fruchtbare – wenn auch vorübergehend sehr demütige – Lösungen entstehen.“ Hier kann und sollte Europa noch stärker eine globale Vorreiterrolle übernehmen.
Künstliche Intelligenz in den USA: Ein Interview mit Olav Laudy
Dr. Olav Laudy beschäftigt sich leidenschaftlich mit analytics-basierter Datenmonetarisierung und der ethischen Nutzung von Ergebnissen aus der Data Science. Wir kennen keinen kompetenteren Vordenker als Olav, der komplexe datenwissenschaftliche Konzepte leicht verständlich darstellen und mit den Auswirkungen auf das Business in Verbindung bringen kann. Nach einer herausragenden Karriere bei SPSS war Olav Chief Data Scientist für IBM Analytics für den asiatisch-pazifischen Raum und wurde kürzlich Chief Data Scientist bei Causality Link, einem schnell wachsenden Startup-Unternehmen, das das Expertenwissen seiner Kunden mit dem automatischen Lesen von Publikationen sowie der Extraktion von ergänzenden Informationen aus quantitativen Modellen kombiniert.
Alexander Thamm: In welchem Zusammenhang haben Sie sich mit der KI-Nutzung in den USA beschäftigt?
Olav Laudy: Ich bin Chief Data Scientist eines Startups, Causality Link – dort entwickeln wir eine Lösung, um Millionen von Finanzdokumenten zu sammeln und zu analysieren, langlebiges Wissen und Treiber aus diesen Dokumenten zu extrahieren, zu aggregieren und das gewonnene Wissen zu nutzen, um leicht zugängliche Erklärungen zu liefern, die jede Branche, jedes öffentliche Unternehmen und die übergreifenden makroökonomischen Themen, die den Markt beeinflussen, abdecken. Unsere Plattform nutzt natürliche Sprachverarbeitung, Machine Learning und Predictive Analytics.
Alexander Thamm: Wie würden Sie den aktuellen Entwicklungsstand/Reifegrad der Künstlichen Intelligenz in den USA beurteilen?
Olav Laudy: Buzzling! Während es sogar Unternehmen gibt, deren Geschäft und Wert fast ausschließlich aus der Nutzung von KI und Machine Learning abgeleitet sind (wie Uber und Airbnb), haben viele Unternehmen in den letzten zehn Jahren analytische Lösungen entwickelt, die ihnen dabei helfen, intelligentere Entscheidungen in allen Bereichen zu treffen.
Alexander Thamm: In welchen Anwendungsbereichen wird KI dort am intensivsten eingesetzt?
Olav Laudy: Man könnte fast sagen, wo wird es nicht verwendet! Jedes B2C-Unternehmen verfügt über analytische Marketinglösungen. Die Entwicklung von Deep Learning hat das Geschäft im Sturm erobert und Unternehmen experimentieren nun mit der Anwendung von Deep Learning bei vielen Kundenkontaktpunkten. Denken Sie beispielsweise an Chatbots, Spracherkennung und Bilderkennung/visuelle Erkennung.
Alexander Thamm: Welche Daten werden hauptsächlich genutzt?
Olav Laudy: Ein Modell ist keine Magie: vielmehr dreht sich alles um Daten. Während Unternehmen traditionell hauptsächlich strukturierte Daten nutzen, die im Rahmen ihrer Geschäftsprozesse erhoben wurden, glaube ich, dass Unternehmen, die einen Wettbewerbsvorteil erlangen möchten, weiterhin alternative Datenquellen entwickeln müssen. Dies kann von der Verwendung von Signalen in der Stimme des Kunden über die Erkennung von Emotionen bis hin zu mobilen Apps reichen, die automatisch Daten über Kundenverhalten sammeln, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.
Alexander Thamm: Und wie steht es um Datenschutz?
Olav Laudy: Es gibt zwar Gesetze zum Verbraucherschutz, allerdings findet dieser Aspekt relativ wenig Beachtung. Die Aufregung liegt vielmehr darin, was mit Analytics erreicht werden kann, weniger darin, wie man Technologien zügeln kann. Hinter den Kulissen findet ein massiver Handel mit Verbraucherdaten statt, wobei alle kleinen Unternehmen Daten verkaufen, die sie von mobilen Plattformen gesammelt haben. Ich bin der beratende CIO eines Startups, DataSaas, das die Block-Chain-Technologie nutzen möchte, um den Datenschutz zu gewährleisten und es den Verbrauchern zu ermöglichen, ihre Daten zu monetarisieren, indem es Unternehmen, die bereit sind, diese Daten zu kaufen, eingeschränkten Zugang gewährt.
Alexander Thamm: Was ist das Interesse/Ziel hinter der Nutzung von Künstlicher Intelligenz in den USA?
Olav Laudy: Das Ziel ist es, einen Wettbewerbsvorteil zu schaffen.
Alexander Thamm: Wo sehen Sie die größten Chancen (und Gefahren) von KI?
Olav Laudy: In den kommenden Jahren werden Sie einen radikalen Wandel in der Art und Weise erleben, wie Geschäfte abgewickelt wird. Vergleichen Sie die Navigation mit Papierkarten mit der Navigation mit Google Maps: Sie können sich kaum vorstellen, wie Ihre Eltern es geschafft haben, ein länderübergreifendes Urlaubsziel zu finden, ohne dass eine magische Stimme in Ihrem Auto sagt: „Nach 300 Metern biegen Sie bei McDonalds links ab“ (ja, Google Maps versteht Wahrzeichen). Diese KI-fizierung wird in jedem Aspekt eines Unternehmens stattfinden, von der Finanzierung (daran arbeiten wir bei Causality Link) bis hin zur Kundenbindung.
Die neue Entwicklung wird sich in hohem Maße auf die Arbeitsplätze auswirken. Jobs werden verschwinden, sich ändern und viele werden neu entstehen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Unternehmen dies so früh wie möglich durchdenken und Maßnahmen ergreifen, um die derzeitigen Mitarbeiter an die neue Situation anzupassen. Zu spätes Handeln in diesem Bereich sehe ich als die größte Bedrohung an.
Alexander Thamm: Welche Fortschritte/Wettbewerbsvorteile konnten die USA durch den Einsatz von KI realisieren?
Olav Laudy: Silicon Valley ist der Standort, an dem in den letzten Jahrzehnten die meisten kommerziellen KI-Entwicklungen stattgefunden haben, mit dem sehr sichtbaren Ergebnis, dass eine große Gruppe von Unternehmen wie Google, Facebook, Uber, Airbnb, Twitter heute weltweit präsent ist und eine Welt ohne sie schwer vorstellbar ist.
Alexander Thamm: Wie sehen Sie die weitere Entwicklung der KI-Nutzung in den USA und wo stehen die Vereinigten Staaten von Amerika im Vergleich zu anderen Ländern?
Olav Laudy: Die KI wird unsere Welt immer mehr durchdringen (denken Sie zum Beispiel an das autonom fahrende Auto), aber auch die Realität wird sich stark auf die KI stützen. Diese Entwicklungen sind im Begriff, im Silicon Valley entwickelt zu werden, dort, wo es die smartesten Denker und Entwickler der Welt hinzieht. Sobald die KI beginnt, das Design und die Entwicklung ihrer selbst zu unterstützen, gibt es nur eine Möglichkeit: die Weltherrschaft für die USA. China entwickelt sich schnell, weil sie das kommen sehen – obwohl es fraglich ist, ob sie das Zeug dazu haben, Weltmarktführer in der KI zu werden -, glaube ich, dass Europa schläft und sich auf Technologie aus den USA verlässt. Das heißt nicht, dass es in Europa keine Entwicklungen gibt, aber aus meiner Sicht wirken sie fragmentiert und lokal. Als Rechtfertigung für eine solche harte Aussage frage ich Sie; nennen Sie ein europäisches Unternehmen, das durch den Einsatz von KI! eine globale Präsenz erreicht hat.
Alexander Thamm: Was empfehlen Sie für den Umgang mit KI (z.B. Unternehmen, der Politik, der Gesellschaft etc.) und was ist Ihre Prognose für die Zukunft?
Olav Laudy: Machen Sie sich bereit für den KI-Sommer! Die 90er Jahre wurden als KI-Winter bezeichnet, da nach einer Reihe enttäuschender Entwicklungen der Fortschritt in der KI stecken blieb, behindert durch die Rechenkapazität. Jetzt sind wir im KI-Frühling: Überall um uns herum entstehen neue KI-Anwendungen. Bald wird diese Entwicklung zu ihrer vollen Blüte kommen und wir werden uns in einer Welt jenseits unserer Vorstellung befinden. Wenn Sie denken, dass ich übertreibe, dann recherchieren Sie z.B. einfach das soziale Tracking-System der chinesischen Bürger. Mit Hilfe von (Kamera-)Überwachung und KI spiegelt sich unerwünschtes Verhalten von Menschen in ihrem Sozialwert wider, was sich auf ihre Freiheit (z.B. Reisen) auswirkt. Augmented Reality wird jeden Aspekt unseres Lebens beeinflussen, von der Art und Weise, wie wir kommunizieren – über eine Distanz – bis hin zur Art und Weise, wie wir unser Geld ausgeben, und wie unsere Innenstädte aussehen werden.
Ich glaube, es gibt keine gute Möglichkeit, sich darauf vorzubereiten, abgesehen davon, den Entwicklungen zu folgen, neue Wege genau im Auge behalten und sich so schnell wie möglich weiterzuentwickeln und anzupassen. Es ist der Vorteil der Early Adopters, der Ihren Erfolg bestimmt.
Künstliche Intelligenz in Deutschland: Ein Interview mit Jörg Bienert
Jörg Bienert ist Mitgründer und Vorsitzender des Bundesverbandes Künstliche Intelligenz und nimmt intensiv an der gesellschaftlichen Diskussion zum Einsatz von KI in Deutschland teil. Gleichzeitig ist er Unternehmer und Gründer von aiso-lab, einem auf strategische KI-Beratung fokussierten Unternehmen aus Köln. Nach seinem Studium der technischen Informatik und mehreren Stationen in der IT-Branche gründete er ParStream, ein Big-Data Startup mit Sitz im Silicon Valley, das 2015 von Cisco übernommen wurde .
Alexander Thamm: In welchem Zusammenhang haben Sie sich mit der KI-Nutzung in Deutschland beschäftigt?
Jörg Bienert: Mit der aiso-lab GmbH habe ich ein Startup mit dem Fokus auf AI-Consulting und die Umsetzung von kundenspezifischen Projekten realisiert. Gleichzeitig bin ich Mitgründer und Vorsitzender des KI-Bundesverbandes e.V., einer Vereinigung von mehr als 180 Unternehmen aus dem KI Bereich. In diesem Kontext bin ich intensiv an den politischen und gesellschaftlichen Diskussionen rund um den Einsatz von KI am Wirtschaftsstandort Deutschland beteiligt.
Alexander Thamm: Wie würden Sie den aktuellen Entwicklungsstand/Reifegrad der Künstlichen Intelligenz in Deutschland beurteilen?
Jörg Bienert: Deutschland hat eine lange und erfolgreiche Historie im Bereich der KI-Forschung, vor allen im Bereich der symbolischen KI. Leider sind wir in den letzten Jahren im Bereich der neuronalen KI von China und USA mit großer Geschwindigkeit überholt worden. Daher ist die Herausforderung, durch eine deutschlandweite KI-Strategie mit einem klaren Fokus und einer stringenten Umsetzungsplanung dafür zu sorgen, dass Deutschland nicht den Anschluss verliert.
Alexander Thamm: In welchen Anwendungsbereichen wird KI dort am intensivsten eingesetzt?
Jörg Bienert: Während Amerikaner und Chinesen im Bereich der allgemeinen Daten und deren Nutzung in KI führend sind, haben wir in Deutschland einen Vorsprung in der Speicherung und Nutzung von industriellen und Maschinen-Daten. Diesen Vorsprung müssen wir nutzen. Das ist Chance und Risiko zugleich, denn wenn wir auch hier den Anschluss verlieren, werden wir in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung große Probleme bekommen.
Alexander Thamm: Welche Daten werden hauptsächlich genutzt?
Jörg Bienert: Die Verfügbarkeit von ausreichend Daten in Bezug auf Quantität und Qualität ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für ein erfolgreiche KI-Entwicklung. Im Bereich der industriellen Daten ist es daher erforderlich, über Datenpools und Open-Data-Initiativen Unternehmen die Möglichkeit zu geben, Daten untereinander und mit KI-Dienstleistern zu teilen.
Alexander Thamm: Und wie steht es um Datenschutz?
Jörg Bienert: Der Schutz der persönlichen Daten ist auch bei der Erstellung von KI-Anwendungen wichtig. Hierbei müssen wir jedoch differenzieren zwischen Daten, die tatsächlich persönliche Merkmale enthalten und Daten, die zum Beispiel nur von Maschinen erzeugt wurden. Bei der Verarbeitung von persönlichen Daten sollte genau analysiert werden, inwiefern für das Training von neuronalen Netzen Persönlichkeits-Rechte tatsächlich eingeschränkt werden. Die DSGVO schießt hier an manchen Stellen über das Ziel hinaus und verschafft anderen Ländern dadurch einen Wettbewerbsvorteil.
Alexander Thamm: Was ist das Interesse/Ziel hinter der Nutzung von Künstlicher Intelligenz in Deutschland?
Jörg Bienert: Auf Basis von KI-Technologien lassen sich komplett neue Anwendungen, neue Produkte und Geschäftsmodelle entwickeln, in allen Industrien und über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Daher ist KI eher einer der wesentlichen Treiber für zukünftiges wirtschaftliches Wachstum. Wir sind in Deutschland auf stetige Innovationen angewiesen um unseren Wohlstand zu erhalten. Daher sollte die Nutzung und Förderung von KI ein langfristiges strategisches Ziel der Politik und Unternehmen sein.
Alexander Thamm: Wo sehen Sie die größten Chancen (und Gefahren) von KI?
Jörg Bienert: KI kann in vielen Bereichen das Leben der Menschen verbessern und eventuell sogar Leben retten, denken wir nur zum Beispiel an die verbesserten Diagnosemöglichkeiten im Gesundheitswesen bei der Analyse von Röntgenaufnahmen oder mikroskopischen Schnitten zur Krebserkennung. KI wird in vielen Bereichen Prozesse verbessern und das Arbeitsleben verändern. Diese Veränderungen müssen langfristig geplant werden und zum Beispiel durch die Anpassung der Ausbildung in Schule und im Betrieb vorbereitet werden. Gleichzeitig sollten ethische Diskussionen beim Einsatz von KI fortlaufend geführt werden, um zum Beispiel Entwicklungen wie bei der totalen Überwachung von Bürgern in China zu vermeiden.
Alexander Thamm: Welche Fortschritte/Wettbewerbsvorteile konnte Deutschland durch den Einsatz von KI realisieren?
Jörg Bienert: Deutschland hat im Bereich der Forschung bereits bahnbrechende Erfindungen geleistet, wie zum Beispiel das von Professor Schmidhuber an der TU München entwickelte LSTM (Long Short-Term Memory), das unter anderem in allen Spracherkennungssystemen eingesetzt wird. Wir müssen besser werden im Transfer von Forschungsergebnissen in die Wirtschaft sowie bei der Gestaltung von skalierbaren Geschäftsmodellen und wachsenden Unternehmen. Dann werden wir vor allem im Bereich von Industrie 4.0 einen wachsenden Wettbewerbsvorteil erzielen können.
Alexander Thamm: Wie sehen Sie die weitere Entwicklung der KI-Nutzung in Deutschland und wo steht Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern?
Jörg Bienert: Deutschland ist in Bezug auf Forschungsergebnisse und wirtschaftliche Durchdringung im Bereich KI gegenüber den USA und auch China ins Hintertreffen geraten. Vor allem im Bereich Mittelstand ist KI noch nicht richtig angekommen – lediglich ein Viertel der KMUs setzen bereits KI ein. Wir müssen im Rahmen der Gesamtstrategie Aufklärungsarbeit leisten, Ausbildung und Forschung stärken und vor allem das Startup Öko-System verbessern, damit leistungsfähige KI- Unternehmen entstehen können.
Alexander Thamm: Was empfehlen Sie für den Umgang mit KI (z.B. Unternehmen, der Politik, der Gesellschaft etc.) und was ist Ihre Prognose für die Zukunft?
Jörg Bienert: Die derzeitige öffentliche Diskussion über KI scheint sich mehr um die Themen Risikominimierung ethische Fragestellungen und Auswirkungen auf die Arbeit zu fokussieren. Wir müssen aber vor allem die Chancen von KI in den Vordergrund stellen, innovationsfreudiger werden und risikobereiter, wenn es darum geht, KI-Vorhaben und -Startups zu fördern, damit wir in vielen Bereichen nicht von den Gewinnern der Plattform-Ökonomien aus den USA und China abgehängt werden.
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